Spülung

Benjamin Steininger

Eine hellgraue, lehmige Flüssigkeit bedeckt den Boden und sprenkelt die Stiefel des Arbeiters auf dem Bohrtisch. Ein Schnappschuss, wie er an jeder Bohrstelle aufgenommen werden kann. Nichts könnte banaler sein als diese formlose, farbenlose, dickflüssige Masse.

Ein Schnappschuss an einer Bohrung der OMV, vermutlich 1990er Jahre: Mit Spülflüssigkeit bespritzte Arbeitsschuhe und Bohrtisch. Quelle: Archiv der OMV sowie Sammlung Rohstoff-Geschichte, mit freundlicher Genehmigung der OMVAG.

Tatsächlich ist das Gegenteil wahr. Spülflüssigkeit ist keineswegs banal, sie ist einer der wichtigsten, technischen Bestandteile einer jeden Bohrung. Sie ist zugleich Transportmittel, Kühlung und Überträger von Information. In ihr bündelt sich, was andernorts ganzer Bergwerksapparaturen und -mannschaften bedarf. Das flüssige Werkzeug, Diagnose- und Erkenntnismittel gehört zum hochtechnologischen Gerätepark wie das kilometerlange Bohrgestänge, wie die mit Kunstdiamanten besetzten Bohrköpfe, wie die mit hitzebeständiger Elektronik ausgestatteten, nichtmagnetischen Bohrstrangkomponenten, wie die Antriebsaggregate und Kompressoren. In der unscheinbaren Spülflüssigkeit laufen alle Aktivitäten der Bohrung zusammen.

Die Überträgerfunktion von Flüssigkeiten, insbesondere von Wasser, ist oftmals beschrieben worden. Schon Hegel hat die Wasserfläche des Mittelmeers als eines der zentralen „Mittel der Kommunikation“ der Antike und damit im zeitgenössischen Sprachgebrauch als Medium bezeichnet.1 Mit Fritz Heider werden in den 1920er-Jahren die physikalischen Strukturen von Stoffen als Überträger von Sinneseindrücken in ihrem Mediencharakter gedeutet.2 Den Funktionen der Spülflüssigkeit als dem Medium der Bohrung nachzugehen, liefert einen Gesamtüberblick dessen, was diese technisch ist.

Die einfachste und erste Aufgabe des Spülkreislaufs ist der Transport des vom Bohrkopf zerkleinerten Gesteins aus dem Bohrloch. Innerhalb des rohrförmigen Bohrgestänges wird die Flüssigkeit mit hohem Druck nach unten gepresst. Außerhalb strömt sie zwischen Bohrgestänge und Gestein gemeinsam mit dem so genannten Bohrklein wieder nach oben. Sie bildet also eine Art flüssigen Förderkorb. Zugleich erfüllt das Mittel einen zweiten Zweck, nämlich die Kühlung des Bohrkopfes, um dieses mechanisch und thermisch besonders beanspruchte und besonders teure Bauteil zu schonen.

Diese Aufgabe, sich dazwischen zu schalten, zwischen den Technikern über Tage und dem Einsatzort unter Tage zu vermitteln, könnte auch reines Wasser übernehmen. Durch Zusätze lassen sich jedoch weitere Effekte erzielen. Im Wasser gelöster Ton kann die Bohrlochwand verkleistern und gegen das Nachfallen von Gestein abdichten. Mit Zuschlagstoffen wie Schwerspat bzw. Baryt lässt sich zudem das Gewicht der Spülung im Bohrloch erhöhen, um unkontrollierte Ausbrüche durch pure Last zu unterdrücken. Trotz Tondichtung auftretende Verluste, also ein Druckabfall in der wieder nach oben gedrückten Bohrspülung, zeigen zerklüftetes Gestein an. Die Spülung wirkt hier folglich nicht nur als ein Transport- und Dichtungsmittel, sondern auch als Messinstrument. Ebenfalls über Zuschlagsstoffe lässt sich der Effekt erreichen, dass in Bohrpausen die Spülungssäule wie ein Gel versteift, und bereits emporgespülte Gesteinsteile durch dieses, Thixotropie genannte, Verfahren am erneuten Absinken gehindert werden.

Nochmals anders stellt sich die Rolle der Spülung bei Turbinenbohrungen dar. Im Gegensatz zum klassischen Rotary-Verfahren, in dem über einen Drehtisch an der Erdoberfläche das Bohrgestänge und damit der Bohrer in Rotation versetzt wird, treibt hier weit unten im Bohrloch eine Turbine den Bohrer an. Auf diese Weise lassen sich auch abgelenkte, selbst horizontale Bohrungen realisieren, um Lagerstätten passgenau zu erreichen und aufzuschließen. Und es ist hier die unter Druck gesetzte Spülflüssigkeit, die die Turbine im Bohrloch antreibt. Als „mud motor“, als Schlammmotor, wird das Aggregat im Englischen bezeichnet. Neben Bohrklein wird hier also auch Energie über die Spülung transportiert.

Zusätzlich zu Materie und Energie überträgt die Flüssigkeit aber auch Information. „Mud logging“ – die unmittelbare, materielle Untersuchung der an die Erdoberfläche gespülten Gesteinsbestandteile ist dabei noch eine vergleichsweise einfache Art und Weise, geologische und geochemische Informationen aus dem Bohrloch zu gewinnen. Als eigener Zweig der Hochtechnologie gilt „measurement while drilling“ (MWD), die geophysikalische Vermessung des Bohrlochs während der Bohrung. Elektrische Leitfähigkeit des Gesteins, Porosität, aber auch die Reflexion von Schall- und Ultraschallwellen sowie von eigens erzeugten Röntgenstrahlen im Gestein werden gemessen, dazu die exakte räumliche Position des Bohrkopfes. Zum Einsatz kommen künstliche chemische Elemente aus der Nuklearphysik und Atomtechnologie, wie Americium (eingesetzt als Americium-Beryllium) und Californium – mit einem Grammpreis von ca. 30 Mio. Dollar das mit Abstand teuerste chemische Element auf dem Planeten –, die als Neutronenquellen in einem Messgerät Daten liefern. All diese Daten werden per Spülflüssigkeit übertragen: Speziell im Bohrgerät positionierte Ventile funktionieren als Impulsgeber, mit denen sich die von den Messgeräten gesammelten Informationen als Druckwellensignale codieren und übertragen lassen. Umgekehrt dient diese Technik auch von oben nach unten zur Fernsteuerung des Bohrkopfes.

Die Flüssigkeit übernimmt also gleich mehrere, voneinander unterscheidbare Funktionen als Übertragungsmedium. Sie überträgt an zentraler Stelle Bohrklein und Motorenenergie, sie sorgt für die Dichte und Standfestigkeit des Bohrlochs und garantiert damit die Medienfunktion dieses Kanals, und sie dient als Überträger geologischer Information, die in einem eigenen, hochtechnischen Medienverbund atomphysikalisch ermittelt und dann hydraulisch codiert wurden.

Zusätzlich zum Übertragen von A nach B wird in der Spülflüssigkeit aber noch eine weitere, weniger in der Physik, als vielmehr in der Chemie und Biologie gebräuchliche Medienfunktion erkennbar.3 Als Medium werden in diesen Wissenszusammenhängen auch Umgebungen und Milieus verstanden, letzteres schon etymologisch eine Ableitung von medius locus, worauf etwa Walter Seitter in seinen Arbeiten zum Wasser als Medium der Organismen hingewiesen hat.4 Und tatsächlich wie in einer Art Nährlösung scheint die gesamte metallische Apparatur in der Bohrflüssigkeit zu schwimmen, jede Verrichtung muss durch sie hindurch. Sie bildet das flüssige Milieu, den Blut- Hormon- und Plasma-Kreislauf, in dem diese Technik erst operieren und gedeihen kann.

Dies alles leistet eine der unauffälligsten aller denkbaren Substanzen, eine hellgraue, formlose Flüssigkeit. Und hat dieses weitgehend unbekannte, doch unerlässliche Medium des Bohrwesens und damit der Petromoderne seine Schuldigkeit in der hochtechnischen Apparatur getan, kann es tatsächlich wie eine gewöhnliche Tonlösung aus einer lehmigen Pfütze an einem Arbeitsschuh landen.

Referenzen:

[1] Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1822), Stuttgart 1961, S. 147. Siehe auch: Kittler, Friedrich / Berz, Peter / Strauss, Joulia / Weibel, Peterl (Hg.): Götter und Schriften rund ums Mittelmeer, Paderborn 2017, S. 114.
[2] Heider, Fritz: Ding und Medium (1926), Berlin 2005.
[3] Vgl. etwa: Berz, Peter: „Die Lebewesen und ihre Medien“, in: Brandstetter, Thomas / Harrasser, Karin   / Friesinger, Günther (Hg.): Ambiente. Das Leben und seine Räume, Wien 2010, S. 23–50.
[4] Seitter, Walter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar 2002, Kapitel 16: „Das Wasser“, S. 231–242.

Bei diesem Text handelt es sich um die Vorveröffentlichung eines Kapitels aus dem von Benjamin Steininger und Alexander Klose verfassten Band Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne  (Berlin: Matthes & Seitz), der im Oktober 2020 erscheinen wird.

© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH