2. Netzwerktreffen „Kreisläufe, Stoffwechsel, Agency: Materialien in Aktion“

Abteilung Design und Medien, Hochschule Hannover
04.–06. Oktober 2019

Im Fokus stehen die lokalen wie globalen Zirkulationen und Austauschverhältnisse von Materialien sowie die Frage nach deren aktiver Wirkungsmacht. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Materialien nicht einfach vorliegen und sich auf einen fixen Ort beschränken, sondern stets in komplexe Kreisläufe und Stoffwechselprozesse eingebunden sind. Materialien stehen nicht still, sondern sind auf verschiedenen Größenskalen in variablen Geschwindigkeiten in Bewegung und Wandel. Sie werden unter teils hohem Aufwand abgebaut, transportiert, aufbereitet, transformiert, kommodifiziert und gehandelt, sodass sie diverse technische, ökologische und ökonomische Zusammenhänge durchlaufen. Im Rahmen des Treffens wird diskutiert, wie der Komplexität solcher Materialflüsse und Stoffströme systematisch Rechnung getragen werden kann.

Materialien werden aber nicht allein durch vielfältige Prozesse in Bewegung versetzt, sie sind selbst prozessualer Natur. Aus diesem Grund gilt es deren je spezifische Eigenaktivität und Dynamik zu untersuchen. Der zweite Schwerpunkt liegt dementsprechend auf der Frage nach der agentiellen Wirksamkeit von Materialien. Dies gilt insbesondere für deren produktive Beiträge innerhalb künstlerischer Strategien und ästhetischer Verfahren, die nicht selten darauf abzielen, die Selbsttätigkeit der Stoffe und deren generative Potenziale fruchtbar zu machen. Thematisiert wird daher, wie materielle Prozesse und fluide Stoffe in der künstlerischen Praxis verwendet und in Szene gesetzt werden, d.h. inwiefern Materialien dort in Aktion zur Geltung kommen.

Am Freitag, den 04. Oktober 2019, unternehmen die Mitglieder des Netzwerks eine Exkursion in das Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation.

 

Vorträge im Rahmen des 2. Netzwerktreffens


Inge Hinterwaldner: Die Blase als Pinsel. Chemische Gärten in künstlerischer Re-Interpretation

Chemische Gärten zählen seit dem 17. Jahrhundert zu den faszinierendsten Schauexperimenten der (Al-)Chemie. Seit den 2000er Jahren erfahren sie unter neuen Vorzeichen in der wissenschaftlichen Forschung ein Revival. Etwa zeitgleich interessieren sich auch Kunstschaffende für dieses Phänomen. Während sich die sogenannten Chemobrionics mit ihrer technischen Ausrichtung  für die Strömungen als Template der Formentwicklung interessieren, adressieren die Kunstschaffenden die gleichzeitige Vielfalt der temporalen Dimensionen in diesen physiko-chemischen Vorgängen. Der Beitrag diskutiert die Spezifika der chemischen Gärten – etwa das strukturelle Präzipitat – unter dem Vorzeichen einer veränderten Auffassung von Malerei und schlägt hierfür zwei Konzepte vor: die Farb-Form als Malmaterial und die farbverkörperte Visualisierung als deren Darstellungspotenz. Visualisiert wird damit die eigene Dynamik.

Benjamin Steininger: Katalyse – ein Schlüsselprinzip der materiellen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts

Chemische Wissenschaft ist einer der wichtigsten Faktoren der Mobilisierung von Materialien im 20. und 21. Jahrhundert. Treibstoffe, Schmiermittel, Düngemittel, Pharmaka und Munition treiben buchstäblich planetarische Geschichte an. Ihrerseits sind diese Stoffe der Effekt einer inneren, molekularen Mobilisierung durch den chemischen Reaktionsmechanismus der Katalyse. Katalyse, also die Beschleunigung und Lenkung von Reaktionen durch besondere, in der Reaktion nicht verbrauchte Stoffe, ist seit der Wende zum 20. Jahrhundert nicht nur das wichtigste Werkzeug der chemischen Industrie, der Nitrat- und Petrochemie. Sie eignet sich auch als Einsatzpunkt für die kulturtheoretische Deutung zentraler Felder der Mobilisierung von Materialien in der Moderne, indem hier Dichotomien von Natur und Technik, von fossiler und postfossiler Industrie, von menschlicher und technischer Agenz, von Mikro- und Makro-Prozessen neu gedacht werden müssen.

Ina Jessen: Zwischen Materialität und Immaterialität. Metaphysische und translokativ wirksame Werkveränderungsprozesse in der Kunst

Schokolade verflüssigt, wird fest, verschimmelt, vertrocknet und zerfällt schließlich zu Staub. Derartige materialspezifische Entwicklungen spielen eine zentrale Rolle im Werk von Dieter Roth (1930–1998). Insbesondere anhand der im Schimmelmuseum (Hamburg, Abriss 2004) entstandenen Lebensmittel-Objekte treten materielle Transformationsprozesse in den Fokus. Dies sind wechselnde Aggregatzustände – vom Festen ins Flüssige, zu Staub oder durch äußere Einwirkungen gar wieder ins Flüssige. Der Einsatz von Lebensmitteln wie Zucker und Schokolade bedingt die Endlichkeit der Kunstwerke. Diese künstlerisch intendierten Verfallsprozesse bewirken eine multisensuelle Rezeption derselben, die als physische Erfahrung (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch) zwischen Ekel und Faszination changiert. Verfall kann hierbei zu glitzernden kristallinen Strukturen führen, wie anhand der Zuckerbüsten deutlich wird. Der Werkstoff Schokolade lockt zudem Insekten zum Verzehr, sodass Roths Schokoladenfiguren Wohnraum und Nahrungs-Wirt zugleich sind. Das Resultat: Um die Installation schwirren Käfer und Motten.

Bedingt durch den Einsatz verfallender Materialien werden die Faktoren Zufall und Zeit als „Kollaborateure“ Bestandteil der Autorschaft. Anerkannte Formen, Funktionen und Wirkungsweisen von Kunstwerken werden somit in Frage gestellt. Damit geht die Revision des Begriffs Original ebenso einher wie die Verneinung von Erhaltungsansprüchen oder des Konzepts eines immerwährend fortbestehenden Kunstwerks. Prozessualität, Verfall und Auflösung stellen tradierte Rezeptionsmuster im Kontext des Anti Form-Konzepts oder des erweiterten Kunstbegriffs in Frage. In der Zersetzung begriffene Kunstwerke sprechen ihre Betrachter*innen auf multisensuelle Weise an. So sind etwa starke Gerüche und das visuelle Erlebnis eines verschimmelnden Kunstobjekts imstande, ihr Publikum zur Hinterfragung normativer Rezeptionsmuster zu leiten und als Katalysatoren für aufbrechende oder erweiterte Ästhetiken zu wirken.

 

Textdiskussion


Materialien und Objekte

Bennett, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham 2010, S. VII–XIX, 1–24.

Bennett, Jane: „Systems and Things“, in: New Literary History, Bd. 43, Nr. 2, 2012, S. 225–233.

Morton, Timothy: „Zero Landscapes in the Time of Hyperobjects“, in: Graz Architectural Magazine, Nr. 7, 2011, S. 78–87.

Morton, Timothy: Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis 2013, S. 1–7, 15–17, 19–24