Schwarzer Spiegel
Benjamin Steininger
Öl ist ein beeindruckend guter Spiegel. Seine Oberfläche reflektiert aufgrund der höheren Viskosität präziser als Wasser. Aber was zeigt er, wenn man hineinsieht? Und was lässt sich dabei über das Medium der Reflexion selbst erfahren?
Die optische Aktivität des Erdöls und seiner Produkte wurde schon im 19. Jahrhundert von Chemikern vereinzelt vermerkt. Am Beginn des 20. Jahrhunderts erlangte das Phänomen jedoch eine Relevanz in einem größeren Zusammenhang. Im Lichte der seit August Kekulé und seiner Entdeckung des Benzolrings entwickelten neuen Strukturchemie, also der Erkenntnis, dass nicht nur die chemische Summenformel eines Moleküls, sondern auch seine exakte, räumliche Gestalt und Struktur für die Eigenschaften eines Stoffes verantwortlich sind, und im Licht der parallel entstehenden Biochemie, erscheint die optische Aktivität und die hinter der verschobenen Reflexion stehende Asymmetrie der Moleküle als starker Hinweis darauf, dass nur biochemische Prozesse und damit Organismen die Moleküle des Erdöls konstituiert haben können.
„Fast alle Erdöle zeigen Rechtsdrehung der Polarisation“, schreibt einer der um 1900 zentralen Protagonisten der organischen Erdölentstehungstheorie, der Geologe und Chemiker Hans Höfer in seinem Buch Das Erdöl und seine Verwandten, „während die Pflanzenöle, ausgenommen Sesam-, Rizinus- und Krotonöl und gewisse Terpentinöle links drehen. Aus der optischen Aktivität kann ein Rückschluss auf den organischen Ursprung der diese Eigenschaft zeigenden Erdöle gezogen werden. Infolge der optischen Aktivität müssen im Erdöl auch asymmetrische Kohlenstoffverbindungen vorausgesetzt werden.“1 Auf einigen Seiten breitet er die Frage der Polarisation und die Argumente zahlreicher Autoren aus und stellt dabei einen in zahlreichen Erdölen aufgefundenen, unmissverständlich organischen Stoff in den Mittelpunkt: Cholesterin. Dass selbst nach Jahrmillionen eindeutig biogene Stoffe wie das Hormon Cholesterin, aber auch Chlorophyll- und Häminderivate im Erdöl nachweisbar sind, dass also sowohl pflanzliche wie auch tierische Chemie in die Gemische des Erdöls eingegangen sind, spricht in der Tat sehr für eine Abkehr der noch von Großchemikern wie Dmitri Mendeleev propagierten Theorie der anorganischen Bildung von Kohlenwasserstoffen aus dem Karbid der Tiefe des Erdmantels.2
Eindeutig organisch gebildetes Erdöl und seine Lagerstätten werden dann auch über eindeutig geohistorische, paläontologische und biogeochemische Methoden und Überlegungen besser in der Erdkruste auffindbar. An jeder Bohrung wird nicht nur totes Gestein als Hinweis auf Lagerstätten untersucht, sondern über Mikrofauna und Mikroflora, über Makro- bis Chemofossilien ein paläontologischer Pfad abgeschritten.
Aber an der Grenzziehung von organischer und anorganischer Welt hängen nie nur praktische und zielorientierte Fragen. Neben diesen eher pragmatischen Aspekten scheint auch ein weiteres, eher untergründiges und fast weltanschauliches Motiv für die Argumente und den Stil der Debatte eine Rolle zu spielen: die mit Darwins Evolutionslehre eröffnete Idee der Kette allen Lebens. Durch sie lassen sich alle Lebensformen auf dem Planeten verknüpfen. Aktuelle menschliche Existenz und fossile Lebenstätigkeit begegnen sich als entfernte, aber doch manifeste Verwandte. Höfers Das Erdöl und seine Verwandten handelt in dieser Lesart nicht nur vom Bitumen, von der Kohle und damit von anderen fossilen Kohlenwasserstoffen, es scheint darüber hinaus auch uns Menschen in diese Verwandtschaft mit einzuschließen.
Referenzen:
[1] Höfer, Hans: Das Erdöl und seine Verwandten, Braunschweig 1922, S. 62.
[2] Vgl. Mendeleev, Dimitrij: „On the Origins of Oil“ (1877), übers. von Veselin Kostov, https://phe.rockefeller.edu/docs/Energy/Mendeleev/Origins_of_Oil_JHA_1.pdf (letzter Zugriff: 08. Mai 2020).
Bei diesem Text handelt es sich um die Vorveröffentlichung eines Kapitels aus dem von Benjamin Steininger und Alexander Klose verfassten Band Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne (Berlin: Matthes & Seitz), der im Oktober 2020 erscheinen wird.
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